Siegfried Frieseke
GLIBBER bis GRÄZIST
Borsdorf: Edition Winterwork, 2011

Kostproben

Videoaufnahmen einer Lesung von Florian Schleburg (Universität Regensburg):
     »In dieser Gegend war ich ja noch gar nie...« (S. 183): Friedhelm, Franz-Xaver und Florestan verirren sich in die Gegen des Venusbergs; mit dem beliebten Phönix-Lied
     »So verängstigt, Herr Doctor?« (S. 329): Schnepperling diskutiert mit zechenden Studenten über die Spielarten der Wollust
     »Schnepperling steht weit draußen auf der Tempelzinne...« (S. 540) und blickt auf sein Leben zurück – beinahe endgültig

Durch den bunten Zaubergarten wandelten verklärte Menschen: festlich gewandet, ungläubig dankbar, flüsterten nur, lauschten scheu, Träumern gleich. Tänzern gleich lächelten sie nickenden Wedeln nach, ließen wunschlos die Augen weiden, setzten nur sachte die wühlenden Sohlen auf die filigrane Flur. Wo zwei schwerelose Paare sich trafen, wichen beide beglückt, tauschten mit graziösen Gesten englische Grüße, sprachen noch im Weitergehen Gutes. Rein war ihrer aller Herz; Gemeines kam denen hier nicht über die Lippen, und keiner fühlte sich auch nur versucht, zu seinem Bruder »Racha!« zu sagen. Nichts lag ihnen ferner, als urheberrechtlich geschützte Software zu kopieren oder einem andern nach dem Leben zu trachten. Avaritia war für sie ein Fremdwort. Sie legten kein falsch Zeugnis ab; sie stahlen nicht, begehrten nicht des Nächsten Weib oder Rind. Manche dufteten sogar.
    Ein Mägdlein in gestrickter Joppe schleppte beidhändig stolz sein Körblein zur Kirchen, darin auf blütenweißem Linnen ein torpides Teigschaf hockte. Drei grüne Lodenmäntel und ein gefiederter Damenhut neigten sich vor ihr: da hob sie ihr Körblein noch höher. Ein gekrümmtes Mütterchen, das zur Feier des Tages fleischfarbene Stützstrümpfe gewählt, schickte sich noch gar nicht an, die beiden Steinstufen zum Pforzich zu ersteigen, da stürzten allbereit drei Ordensritter in Zivil herzu, um Lucae 14.23 zu beherzigen. Dort zwischen den Kübelpflanzen kreuzten sich die Choreographien zweier blühender Sippen: man verhielt, man pries sich selig ob solch unerwarteter Rencontre an abgeschiednem Orte; man flehte Segen herab auf Gesundheit und Schönheit der Gegenseite, und die Oberhäupter gönnten einander wiederholentlich den Anblick der jeweiligen Alopecia senilis, ehe sie es über sich gewannen, wieder für eine Runde Urlaub zu nehmen. An den Rändern des Platzes waren Polizeiautos mit lautlos rollenden Blaulichtern aufgefahren, und vor der gegenüberliegenden Häuserfront stand ein bewachtes Absperrgitter.
    »Florestan!« Ich schlug entzückt die Hände zusammen: »Ein Ävent!«
(Der Domplatz zu ⁂ am Ostermorgen, Seite 163 f.)

»Und überall in der Wohnung hat er seinen klebrigen Schuhpuder verteilt.«
    »So so.«
    »Ganz echt. Gestunken hat das! Wie dieses Zeugs, diese Deobäume fürs Auto, weißt du: nur noch Kiefernwald und Meersalz und Sommerbrise, nicht auszuhalten! Ich hab’ alles Mögliche probiert, um ihn wieder loszuwerden. Ich hab’ mir  z w e i  CDs mit Akkordeonmusik gekauft, stell dir vor! Erst eine und dann noch eine. Ich hab’ ihm unsittliche Anträge unterbreitet. Ich hab’ die Gelbwurst im Kühlschrank deponiert, bis sie die Wände hochkrabbelte und schier das Rad erfand – half alles nix.«
    »Mhm.«
    »Bis ich angefangen hab’, seine Sachen zu beerdigen.«
    »Mhm. — Wie, ›beerdigen‹?«
    »Genau das hat er auch gesagt, hihi. Das war sauwitzig. Das erzähl’ ich dir noch, bevor du dein Wasser abschlagen gehst. Erst entschwanden nämlich nur ein paar Joghurts von ihm.  —  D a s  Joghurt hat der immer gesagt: ›Hast du irgendwo das Joghurt gesehen, das ich gestern erstand, Dirk?‹ Und noch so was... Dieser Fatzke.«
(Dirk auf Seite 252 über seinen Wohnungsgenossen)

»Schweig’ schtille!« machte der Kleine seinem Zorne Luft. »Meenst Du etwa, ich kenne nich den Unterschied zwischen dem berüchtigten indischen Wagenlenker Tacitus, der seinerzeit bei Reichenberg den unschterblichen Ausschpruch ›Alea jacta est‹ that, zu deutsch ›Alles Jacke wie Essig‹, und eenem indianischen Feldlazareth? Vade hetero, Samuelis, da haste mich noch immer nich in meinem ganzen schtillen Heldenthum erkannt! Laß Dir denn eröffnet sein, daß ich damals in Waldheem sämmtliche freie Künste höchstpersönlich procrastinirt habe, von den weniger freiwilligen gar nich zu reden, und mich folglich als begloobigten Specialitiker in jedwedem Secreta secretarium verzeechnen darf. Das macht mir so leicht keener nach.«
(Ein sächsischer Westmann auf Seite 295)

Ich sage euch ein Secret: Die danzt nicht für die Gründlinge. Die sieht euch Gründlinge gar nicht! Die danzt für sich, die senkt sich in sich selbst hinab, befreit sich von den Hefen dieses Abends, besinnt sich auf das Eine hinter Allem, unzerstörbar, unbeschmitzt. Läutert auch mich, rettet auch mich. Erfüllt sind die Zeiten, der Friede ist da! Weg nun mit der Trompeuse!
    Alle Jünglinge: »Enthülle den Gral!«
    Nein, laßt ihn unenthüllt! Fürchtet ihr nicht das übergewaltige Licht? Sucht nicht den letzten demantnen Grund zu entdecken: ’s geht über Menschenkraft! Beuget die Knie mit mir am Geschwell, entweiht nicht das Sanctum Sanctorum! Halt ein, Alflind, bleib abstrakt und intelligibel! Schon ist vergessen, was je uns belastet, was uns befleckte, was uns bedrängte. Vergessen das Peinliche, alles Unreinliche abgeschüttelt im Takt. Nichts ist verloren! Neu! Rein! Neugeboren und – nackt.
(Schnepperling vor Alflinds Schönheit, Seite 392)