Siegfried Frieseke
GLIBBER bis GRÄZIST
Borsdorf: Edition Winterwork, 2011


"Friesekes fulminanter Erstling –
ein trinkfreudiger Textsortentumult voll literarischer Bezüge,
ein Hochfest der deutschen Sprache zwischen Schwulst und Werbeschwachsinn,
zum Abschied von allem, was uns teuer war."
(R. D. de la Escosura)

Das Buch

Fünfzehn Jahre nach dem Abitur treffen drei Schulfreunde, die vormals Lehrer und Mitschüler durch virtuose Quertreiberei auf die Palme brachten, wieder zusammen, um ihre Eintracht zu zelebrieren und sich ihrer Besonderheit zu vergewissern. Doch die Nostalgie des Wiedersehens hält den aufbrechenden Ressentiments nicht lange stand. Die Zeit des unverbindlichen Ausprobierens ist vorüber: aus den gemeinsamen Voraussetzungen hat jeder der drei sein eigenes Lebensmodell verfestigt, das es nun zu rechtfertigen gilt – und nicht nur vor den Freunden, denn je später der Abend, desto wunderlicher die Erscheinungen...

Florestan Schuldheiß hat zielstrebig die absehbare Karriere verfolgt und ist als Stardirigent und Familienvater in die Heimatstadt zurückgekehrt. Friedhelm Schlichthärle lebt als kleiner Angestellter, wie früher als Einzelkind aus begütertem Hause, ganz seinen schöngeistigen Interessen. Klassenprimus Franz-Xaver Schnepperling hat durch eine sprunghafte Veranlagung seine Ehe ebenso wie seine akademische Laufbahn zerstört und befindet sich mit einer neuen, wesentlich jüngeren Lebensgefährtin auf der Flucht vor Schuld und Versagen.

Das elitäre Klassentreffen beginnt am Ostersamstag im Schuldheiß’schen Eigenheim, wo sich Friedhelm und Franz-Xaver mit Wohlstand und Familienglück ihres erfolgreichen Klassenkameraden konfrontiert sehen. Während Friedhelm sein Heil in alten Schulgeschichten sucht, hält sich Franz-Xaver den nahe liegenden Vergleich durch verzweifelten Spott vom Leibe. In Florestans jüngster Tochter Helene vermag er ein Gefühl trotziger Solidarität zu wecken, doch vor der transzendenten Beredsamkeit des Schwiegervaters Erwin Sorkel bleibt ihm nur die Kapitulation. 

Nach dem etwas abrupten Aufbruch durchwandern die Freunde die österlich geschmückte Innenstadt und lassen sich zu später Stunde in einen unterirdischen Nachtclub locken, wo ein bizarres Publikum versammelt ist: Freudenmädchen und Frauenrechtlerinnen, Esoteriker und berufsmäßige Besserwisser, Raufbolde, Karl-May-Forscher, barocke Studenten und Gespenster aus der Vergangenheit. Bei Alkohol und Live-Musik verschwimmen im »Venusberg« die Grenzen von Innen und Außen; Einst und Jetzt wirbeln durcheinander, und Dr. Schnepperling muss ganz nach unten, um wieder aufzukommen. Aus tiefster Demütigung rettet ihn seine Geliebte, die Nachwuchsdichterin Anežka, ins Freie. 

Letztes Ziel des Ausflugs in die eigene Biographie ist die Sternwarte des alten Gymnasiums. Durch die dunklen Korridore, die von ergötzlichen wie schmerzlichen Reminiszenzen bevölkert sind, steigen die ermüdeten Wanderer auf das Dach des Gebäudes, wo Schlichthärle durch eine seit dem Nachmittag aufgeschobene Mate-Zeremonie Ruhe und Versöhnung zu schaffen hofft. Florestan aber schläft bald missmutig ein, und während Anežka durchs Fernrohr blickt, muss sich Franz-Xaver in einem letzten Zwiegespräch unter dem Sternenhimmel von manchem Irrtum verabschieden. Ein rätselhafter Gast aus dem Mittelalter führt ein unerwartetes Ende herbei.

GLIBBER bis GRÄZIST – der Titel zitiert einen Band des Grimmschen Wörterbuches – ist das detaillierte Protokoll des Zusammenbruchs einer narziss­tischen Identitätskonstruktion. Dem dreiteiligen Bauplan liegt die Midlife-Crisis-Dichtung Dantes zugrunde, von der denn bei Tisch und unterwegs immer wieder die Rede ist. Debattiert wird auch über Karl May (dessen Todestag sich 2012 zum hundertsten Male jährt), über Musik, Bildung, Gesellschaft und Religion. Das Spektrum der eingewirkten Textsorten reicht vom populärwissenschaftlichen Diskurs über Stammtischprahlerei und Produktwerbung bis zur literarischen Persiflage. Musikalische Einlagen, Gedichte in mehreren Sprachen und der Wechsel von Monolog, Dialog und Polyphonie lockern das dichte Gewebe auf.

Siegfried Friesekes fulminanter Erstling ist ein thematisch, strukturell und stilistisch anspruchsvolles, aber durch seine parodistische Charakterzeichnung und die schiere Vielfalt der Formen und Inhalte gleichzeitig sehr unterhaltendes Buch.

Im gebundenen Ladenpreis enthalten sind...

Internationale Stimmen

»Il n'y a que dans les romans qu'on change d'état ou qu'on devient meilleur.« (A. Camus)

»Igitur audi, sed crede, quae uera sunt. Accessi confinium mortis et calcato Proserpinae limine per omnia uectus elementa remeaui, nocte media uidi solem candido coruscantem lumine, deos inferos et deos superos accessi coram et adoraui de proxumo. Ecce tibi rettuli, quae, quamuis audita, ignores tamen necesse est.« (Apuleius)

»... when a monk asked the master Chi-ch'en, ›What is the way upward?‹ the latter replied, ›You will hit it by descending lower.‹« (Wu, The Golden Age of Zen)